Juist und Sankt Peter Ording. Ein Nordseeurlaub mit Watt, Wind und Wellen und mit Christian, dem stärksten Sturm dieser Saison.
Da stehe ich an der Küste, im Hafen, kann die Insel schon sehen. Nicht irgendwo am Horizont sondern erstaunlich nah liegt sie da vor mir, direkt neben Norderney. Und doch: die Fähre braucht ganze 1 1/2 Stunden für die Tour nach Juist. Sie fährt entlang einer sorgfältig abgesteckten Route durchs Weltnaturerbe Wattenmeer. Was bleibt übrig, natürlich muss ein Jever her. Quasi das Nationalgetränk im Norden. Ich blicke über die Reling und muss unwillkürlich an den Mann in den Dünen denken. „Wie das Land, so das Bier. Friesisch herb“. Manchmal lügt die Werbung eben doch nicht.
Die Fähre legt an, ein Trecker fährt die Wagen mit den Koffern vom Schiff in den Hafen. Wir stehen derweil Schlange, die Kurtaxe will bezahlt sein. Auf dem Platz warten Kutschen und Fahrradkuriere mit Anhänger. Sie kommen von den Hotels und bieten an, die Koffer dorthin zu fahren. Nö, wir laufen lieber. Die ersten Schritte auf dieser Insel fühlen sich an wie aus einer anderen Zeit. Diese Stille. Keine Motoren, keine Sirenen, nur die Möwen, die um die Wette schreien. Und natürlich die Hufe der Pferde.
Wir kommen im Hotel an. Hinter der Rezeption steht Frau Freese persönlich und ruft uns „Hallo, Herr Henschel“ entgegen. Ich bin beeindruckt. Kaum ein Fuß im Hotel merke ich: die geben sich hier wirklich Mühe. Gut, das nicht sparsam verwendete Blumendekor ist nicht so ganz mein Geschmack, aber ich fühle mich aufgehoben. Von unserem Balkon kann ich die Düne sehen, das Watt und das Meer. Zumindest alle sechs Stunden.
Wir sind uns einig: Juist war die bessere Wahl. Zur Auswahl standen damals, als wir unsere Tour durch Ost- und Nordfriesland planten, Norderney und Juist. Warum? Weil diese beiden Inseln von Norddeich aus erreichbar sind und Norddeich der einzige Ostfriesische Hafen mit Bahnanschluss ist. Die Fähre fuhr an Norderney vorbei und ganz ehrlich: hübsch sah das nicht aus. Eher nach 70er-Jahre-Hotelbauwut. Wir sind froh, auf dieser Insel gelandet zu sein, wo kein hässliches Hochhaus den Ausblick vermiest.
Zwei volle Tage liegen vor uns, genug Ruhe und Zeit, den Geist etwas herunter zu fahren. Wir lassen alles ganz entspannt angehen. Am ersten Tag gehen wir den westlichen Teil der Insel erkunden, am zweiten den östlichen. Dazwischen immer Pausen, wir kehren hier ein, lassen uns dort nieder und genießen. Das inflationär gebrauchte Wort „Entschleunigung“ trifft es wohl am besten.
Teil zwei der Reise führt nach Sankt Peter-Ording. Natürlich ebenfalls per Bahn. Die fährt über Bremen, Hamburg und Husum. Der letzte Teil, also Husum–St. Peter-Ording, ist eine Bimmelbahn schlechthin. Ich mag das ja, wenn man an diesen kleinen Dörfchen vorbei rauscht, die im Zweifel eher eine Haltestelle als einen Bahnhof haben. Der Wind geht ordentlich und wenn, so wie hier, nichts ist was ihn aufhält, dann ruckelt es im Zug schon einmal ordentlich.
SPO, wie die Leute hier ihren Ort nennen, kennen viele Niedersachsen wohl aus Ihrer Schulzeit, es war eines der Klassenfahrtziele schlechthin. Ich bin allerdings zum ersten mal hier und schnell stellen sich gemischte Gefühle bei mir ein. Mein Eindruck: das ist ein Ort, der das Sylt des Festlands werden will. Hohe Preise, neue Bauten und irgendwie alles so sorgfältig geplant. Es fehlt ein bisschen an „Seele“, so ein Ort denn so etwas wie eine Seele haben kann. Sicher, der Strand ist bombastisch. Ewig breit, noch viel länger und gesäumt von einer großen Dünenlandschaft. Mir schwant schon: so richtig wohl fühlen werde ich mich hier nicht.
Dann kommt Christian mit 172 Sachen angerauscht. Dächer werden abgedeckt, Blumentöpfe fliegen durch die Gegend. Christian ist, zumindest laut den Nachrichten, das stärkste Orkantief, das hier seit den Wetteraufzeichnungen registriert wurde. Wir sitzen in unserem Zimmer vor dem Fenster und beobachten. Die Autofahrer haben Glück, die Ziegel landen alle wie durch ein Wunder immer direkt neben den parkenden Autos. Besser als Kino. Hier knickt ein Baum um, dort fliegt der Sand vom Strand hunderte Meter weit. Wir wagen den Gang nach draußen und kehren nach wenigen Metern um. Meine Brille wurde gesandstrahlt und ich schmecke das Salz vom Meer.
Gut, schöne Spaziergänge sind also nicht drin. Was macht man in einem solchen Fall? Man besucht das Spa. Einmal kneten lassen und schon sieht die Welt wieder anders aus. Da uns nichts anderes übrig bleibt, üben wir uns in noch mehr „Entschleunigung“. Christian wütet den ganzen Tag und die halbe Nacht. Das sieht man nicht nur, man hört es auch. Ich lese mein Buch weiter, Christians Akustik bietet meiner Fantasie eine wunderbare Bühne – Sebastian Fitzeks „Therapie“ kommt mir fast wie ein Film vor.
Irgendwann geht auch diese Reise zu Ende. Und, wenn man als guter Bahnkunde etwas über die Zeit gelernt hat, dann dass die Bahn bei irgendwelchen Wetterkapriolen überfordert ist. So auch dieses Mal. Keiner kann uns sagen, ob unsere Züge so fahren wie sie sollen. Tun sie nicht. Statt gemütlich im IC von Husum nach Hamburg zu fahren, werden wir in eine NordOstseeBahn nach Itzehoe gesteckt. Von dort soll ein Bus als Ersatz fahren. Tut er auch. Der Busfahrer hält eine Ansprache, erklärt, dass er seit zehn Stunden am hin und her fahren ist und eigentlich die Schnauze voll hat. Super, denke ich, das macht Mut. Ich sitze vorne und versuche mich zu entspannen, muss aber immer wieder auf den Fahrer schauen und suche nach Anzeichen für den Sekundenschlaf. Am Ende geht doch alles gut und wir kommen in Pinneberg an. Von hier fährt die S-Bahn nach Altona, wo wir tatsächlich unseren ursprünglich geplanten ICE erreichen. Aber auch nur, weil wir in SPO vier Stunden früher los gefahren sind.
Euer Dennis Henschel